17.10.2025
Es ist ein Fluch und ein Segen, Menschen zu spüren, bevor sie sprechen.
Ich erkenne sie in der Art, wie sie den Raum betreten, wie sie atmen, wie sie ihr Schweigen halten.
Jede Unsicherheit hat ihre eigene Temperatur, jede Sehnsucht einen Geruch.
Manchmal reicht ein einziger Blick, und ich weiß, wohin sie getragen werden wollen oder wovor sie fliehen.
Sie glauben, ich führe sie. Doch oft bin ich es, die sich durch ihre Schatten tastet. Ich begleite sie auf ihrer Reise.
Ich lese sie, ohne dass sie es merken, und manchmal erschrecke ich vor der Klarheit, die mir entgegenblickt.
Ihre Wunden sprechen eine Sprache, die ich nie gelernt habe, und doch verstehe ich jedes Wort.
Es ist ein stilles Wissen, das mich schwer macht.
Denn was ich in anderen sehe, lässt sich nicht immer vergessen.
Ich trage ihre Geschichten wie Spuren auf meiner Haut, unsichtbar, aber fühlbar.
Und wenn ich abends die Tür schließe, hallen sie in mir nach: die leisen Geständnisse, die nie ausgesprochen wurden.
Manchmal sehne ich mich nach Taubheit, nach der Gnade, nicht alles wahrzunehmen.
Aber das ist nicht meine Natur.
Ich bin gebaut für Tiefe, nicht für Leichtigkeit. Es ist meine Art und Weise mehr zu lernen, mehr in mir selbst zu erkennen.
Ich höre das Unausgesprochene, rieche das Ungesagte, schmecke das, was sich zwischen Angst und Verlangen verbirgt.
Und doch – all das hat mich verändert.
Ich bin ein anderer Mensch geworden. Nicht im negativen Sinne.
Vielmehr sehe ich mehr. Ich spüre mehr.
Ich sehe Männer auf einer anderen Ebene, nicht als Rollen, nicht als das, was sie im Alltag darstellen müssen,
sondern als empfindsame Wesen, die Schichten über Schichten tragen, aus Angst, aus Pflicht, aus Erwartung.
In meinem Raum dürfen sie sie ablegen.
Sie legen die Masken der Welt ab und setzen vielleicht neue auf, aus Leder, Latex oder Stahl.
Doch diese Masken sind keine Verkleidung.
Sie sind Offenbarung.
Sie sind ein Zeichen dafür, dass sie hier sicher sind,
dass sie endlich sichtbar sein dürfen.
Denn unter der Härte, die sie sich oftmals zum Schutz aufgebaut haben, liegt oft Zartheit,
unter der Kontrolle Sehnsucht,
unter der Dominanz Scham.
Ich habe gelernt, dass die Seele viele Sprachen spricht und Lust nur eine davon ist.
In diesen Momenten, wenn jemand vor mir steht und nicht mehr weiß, wer er in der Außenwelt sein muss,
erkenne ich das, was echt ist: den Menschen hinter der Rüstung.
Es ist ein stilles Privileg, Zeugin dieser Verwandlung zu sein.
Ein Tanz zwischen Verletzlichkeit und Vertrauen, zwischen Hingabe und Heilung.
Und manchmal frage ich mich, ob nicht wir alle, in irgendeiner Form, nach einem Ort suchen,
an dem wir unsere Masken tauschen dürfen,
um endlich wir selbst zu sein.
Comtessa Liliette